Wenn Essen krank macht © Erika Harzer
Wenn Essen krank macht © Erika Harzer

Berliner Zeitung - 2. Juni 2012 von Erika Harzer

Adipositas

Anna war lebhaft, hatte Kampfgeist und Selbstbewusstsein. Und: Sie war schlank. Doch dann wird Anna immer dicker und unglücklicher. Am Ende wiegt sie 130 Kilogramm. Ihre letzte Hoffnung: eine Operation. Eine Geschichte von Krankheit und dem Beginn einer Genesung.

„Ich werde mich operieren lassen“, sagt Anna. „Die Entscheidung steht.“ Ihr Gesicht wirkt aufgedunsen wie so oft in letzter Zeit, die Augen müde, aber ihre Worte klingen so entschlossen wie lange nicht mehr.

Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht. Operation? Was für eine Operation? Sie hatte mir mal von beginnendem Diabetes erzählt, oder davon, dass ihre Knie in letzter Zeit oft schmerzen, dass sie kaum noch laufen könne, was nicht gut sei. Denn laufen müsse sie doch. Bei ihrem Gewicht.

130 Kilogramm sind es jetzt, ihr Body-Mass-Index (BMI) liegt bei 41. Eine unfassbare Zahl. Gerade mal zwölf Zentimeter ist sie größer als ich und bringt mehr als das Doppelte auf die Waage. Manchmal komme ich mir neben ihr wie eine halbe Portion vor mit meinem dem Normalmaß entsprechenden BMI von 23.

Jung, dynamisch, dünn

Anna sagt, sie wolle sich den Magen verkleinern lassen. Ein chirurgischer Eingriff, damit sie weniger isst, weniger essen kann, damit der Körper ihr wieder ein soziales Leben ermöglicht und ihre Überlebenschancen steigen. Wir sitzen in einem Gartencafé am Kanal in Kreuzberg. Um uns herum tobt das touristische Leben Berlins, vielsprachig laut, jung, dynamisch, dünn. Wie ein Vorwurf. „Ich stimme einem Eingriff in meine körperliche Unversehrtheit zu“, sagt Anna. „Idiotisch oder?“

Sie ist Ende 50, genau wie ich. Wir sind Freundinnen seit 30 Jahren, Frauen aus einer Generation, die einmal stundenlang darüber diskutieren konnten, wie wichtig das Selbstbestimmungsrecht der Frau an ihrem Körper ist. Als ich sie kennenlernte, lebte sie in Essen, und ich brauchte einen Schlafplatz auf meinem Weg nach Spanien.

Bei Barcelona wollte ich mir besetzte Bauernhöfe anschauen. Irgendwer gab mir die Adresse ihrer Wohngemeinschaft. Eine kräftig gebaute, attraktive junge Frau öffnete die Tür zu einer hellen Fabriketage und fragte: „Haste Hunger nach der langen Fahrt?“ Es wurde eine lange Nacht. Bei Bandnudeln mit Pilzen in Sahnesoße erzählten wir uns Episoden aus unserem bisherigen Leben.

In Brokdorf hätten wir uns schon 1976 treffen können, da demonstrierten wir beide gegen das dort geplante AKW. Oder im französischen Malville im Sommer 1977, als wir dort im internationalen Block den Bau des schnellen Brüters verhindern wollten. Natürlich hing in ihrem Gemeinschaftsraum auch der Stern-Titel „Wir haben abgetrieben“, mit dem sich prominente Frauen öffentlich zu einem Schwangerschaftsabbruch bekannten. „Super Aktion, oder?“, sagte Anna . „Ja ganz schön mutig“, erwiderte ich.

Diese verdammten Fragen

Das war es in der Tat zu jener Zeit, in der kurz vorher noch die Männer die Arbeitsverträge ihrer Ehefrauen unterschreiben mussten. „Aber auch schmerzhaft“, fügte ich noch leise für mich hinzu. Auch ich hatte abgetrieben, hatte diesem Eingriff in meinen gesunden Körper zugestimmt, der unwiderrufbare Fakten schuf und mit dem ich immer wieder haderte in meinem späteren Leben.

Diese verdammten Fragen, ob es richtig war, oder was hätte richtig sein können. Sie sind auf einmal wieder da, und ich frage fast mütterlich: „Hast du wirklich alle Folgen für dich durchdacht?“ Anna schaut mich wortlos an und ich meine, ein ungläubiges Kopfschütteln an ihr zu bemerken. „Dumme Frage“, sage ich schnell.

Anna zog Anfang der Achtzigerjahre in ein besetztes Haus in Berlin, sie studierte Psychologie. Ich hatte mein Sozialpädagogik-Diplom schon in der Tasche und arbeitete in einem selbstgegründeten Berliner Pädagogenkollektiv. Unser Slogan hieß: „Zusammen leben, arbeiten und lernen“. In zweijährigen Kursen boten wir Jugendlichen an, sie zum externen Hauptschulabschluss zu führen. Heute gibt es jede Menge solcher Angebote, damals waren wir die Einzigen.

Sie konnte gut reden

Auf Demonstrationen für den Erhalt besetzter Häuser und gegen die Profite der Immobilienhaie trafen wir uns wieder. Sie hatte sich kaum verändert, strahlte kämpferisches Selbstbewusstsein aus. Anna schaffte es immer, aufzufallen: 1,72 m groß, 80 Kilo schwer, ihr Schritt donnernd, die Lippen rot geschminkt, an den Ohren dicke Klunker, an den Fingern große Ringe.

Sie konnte gut reden und mit kleinen, einfachen Geschichten aus dem Leben alle unterhalten. Für jemanden wie mich, protestantisch prüde sozialisiert und eher zurückhaltend, war Annas überbordende Lebenslust manchmal ein wenig anstrengend, und ich hatte damit zu tun, meinen eigenen Rhythmus zu verteidigen. Sie war groß, stark und lustig. Ich mochte sie.

Unsere Wege kreuzten sich immer wieder, anfangs auf Veranstaltungen, Partys und Demonstrationen, später in unserer gemeinsamen Frauengruppe. In den Neunzigern wohnten wir ein paar Jahre zusammen. Dann zog sie zu ihrem Freund, und ich für ein paar Jahre nach Mittelamerika. Unser Kontakt verlor sich in der Entfernung. Nach fünf Jahren sahen wir uns wieder, und ich war überrascht, wie dick sie in dieser Zeit geworden war. Und es hörte nicht auf.

Anna wurde immer dicker. Und jedes Mal, wenn wir uns sahen, aß sie. Ein Stück Torte, Kekse, ein dickes Steak. Manchmal auch heimlich während einer ihrer Diäten. Es waren viele Diäten. Mal kalorienreduzierte Mahlzeiten, dann ein essfreier Tag, mal Fastenwochen, Weight Watchers oder auch Akupunktur. Nichts davon hat ihr geholfen. Statt weniger wurden die Kilos mehr.

Im gleichen Maße, wie ihr Körpergewicht zunahm, reduzierte sich ihr soziales Leben. Auch wir trafen uns weniger, wurden Teil des Kreislaufs des Nicht-Verstehens und des Sich-Nicht-Verstanden-Fühlens. Ich hab sie nie gefragt, was eigentlich los ist. Die Fragen waren nur in meinem Kopf: Warum muss sie Kalorienbomben essen mitten in der Diät? Kann sie sich nicht einmal beherrschen?

Magen-OP als Notbremse

Manchmal war ich wütend, manchmal traurig, manchmal ratlos. Wie sollte ich sie ernst nehmen? Ich wusste ja, wie sie unter dem Dick-werden litt und ihren Lieblingshosen und Blusen nachtrauerte. Erst hier in dem Café in Kreuzberg sprechen wir darüber. Das erste Mal.

Ihre Entscheidung zur Magen-OP, zur Notbremse, bricht das Schweigen. Wir reden über Vergangenes und wie es dazu kommen konnte, dass Anna nun von einem chirurgischen Eingriff die Rettung erhofft, weil alles andere nichts genützt hat und sie krank ist, lebensbedrohlich krank. Anna leidet an Adipositas, an starkem Übergewicht.

1997 wurde diese über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts von der Weltgesundheitsbehörde als Krankheit anerkannt. Schätzungen zufolge sind rund eine Million Menschen in Deutschland an Adipositas erkrankt. Laut der Adipositas-Stiftung Deutschland gehören rund zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung dieser Risikogruppe an. Sie stellen eines der wichtigsten Gesundheitsrisiken unserer Zeit dar. Folgeerkrankungen wie Diabetes, erhöhter Blutdruck, koronare Herzkrankheiten, Herzinfarkt oder Schlaganfall können die Lebenszeit dieser Erkrankten verkürzen.

Essen aus Frust

Auch bei Anna wurde eine Vorform von Diabetes als Folge des Übergewichts festgestellt. Vieles von dem, was Anna mir erzählt, habe ich geahnt, aber nicht weiter verfolgt, vielleicht nicht wirklich ernst genommen und vor allem nicht als Krankheit betrachtet.

Anna versucht zu lächeln, und ich bilde mir ein, in ihrem Blick all die Verletzungen zu sehen, mit denen sie so lange schon leben muss. Irgendwann hat sie mir erzählt, dass sie ihren Spiegel mit einem Tuch verhängt hat. Ich dachte, das wäre ein erneuter Beweis ihrer inneren Stärke, sie wolle demonstrieren, wie egal ihr Äußerlichkeiten seien. Nun erfahre ich, dass sie sich nicht mehr sehen konnte, ihren eigenen Anblick nicht mehr ertrug. Diesen ihren Körper, der ihr doch so wichtig war.

„Du siehst dich als Versagerin, durch und durch“, sagt sie. „Nicht nur vor dir selbst, auch vor den anderen, denen ich lautstark von meinen Diätplänen erzählt hab. Das gibt dir ein Stigma im Sinn von: Anna erzählt mal wieder was vom Abnehmen und kriegt ihre Ess-Eskapaden nicht in den Griff. Du wirst belächelt oder abgelehnt. Das spürst du, auch wenn dir niemand was sagt. Das Ganze gipfelte darin, dass ich den Frust darüber nur mit Essen kompensieren konnte. Das war das Einzige, woran ich mich festhalten konnte.“

Wir bezahlen, Anna möchte raus aus dem Café, es strengt sie an, zwischen all den gut gelaunten und gut aussehenden Menschen über sich zu reden. Wir laufen langsam am Kanal entlang, zu ihr nach Hause, manchmal halten wir an. Nicht nur das Reden, auch das Laufen strengt an. Ich frage sie, wie es eigentlich angefangen hat, wann es losging.

Eine Person, die sie nicht sein wollte

Anna sieht den Schwänen auf dem Kanal zu und sagt, sie habe schon immer gutes Essen gemocht. Das habe für sie einfach dazu gehört. „Meine Sahnesoßen kamen immer gut an.“ Mit der Zeit habe sich dann aber der Stellenwert des Essens verschoben, weg vom Genuss hin zum Beruhigungsmittel. Bei Ärger, Stress oder Streit, habe nur Essen ihr geholfen, sie beruhigt. „Wenn ich kribbelig wurde, habe ich gegessen, oder wenn ich mich unruhig fühlte oder emotional aufgelöst war. Ich kannte kein Sättigungsgefühl mehr und verwandelte mich in eine Person, die ich nicht sein wollte.“

Zu Hause legt sich Anna aufs Sofa und trinkt Kräutertee. Es sieht gemütlich aus, wie sie da liegt, aber vermutlich strengt sie sogar das Liegen an. „Siehst du den gestrandeten Wal?“, fragt sie und streicht sich über ihren Bauch. So ist Anna, so kenne ich sie, immer einen Witz machen, damit niemand die Trauer in ihr sehen kann.

Doch auch die kenne ich, aus der Zeit, als wir zusammen wohnten. Manchmal konnte sie nicht mehr aufhören zu weinen. Sie wurde da schon dicker, war aber noch weit von den späteren 130 Kilogramm entfernt. Immer wieder brach eine Angst bei ihr aus, Anforderungen nicht gerecht zu werden, und es war schwer, sie in solchen Momenten zu trösten. „Du forderst zu viel von dir“, sagte ich ihr, oder „such dir doch überschaubare und für dich bewältigbare Themen“, doch ich drang nicht zu ihr durch. Nachdem wir auseinandergezogen waren, hatten wir nicht mehr viel miteinander zu tun.

Heute kann ich nur ahnen, wie schwer es für sie sein muss, zu erzählen, wie es wirklich um sie steht, wie verzweifelt sie ist, warum sie sich immer mehr isoliert. „Du weißt ja, wie Dicke in unserer Gesellschaft angesehen werden. Für Frauen gibt es kaum etwas Schlimmeres, als dick zu sein. Schau dir doch die Medien an, da siehst du die Frauenbilder, die zählen. Zuerst dachte ich, da stehe ich drüber. Aber irgendwann war es vorbei. Ich bin nicht mehr ausgegangen, weil ich mich so hässlich, so unförmig fühlte“.

Der Markt boomt

Pause. Anna muss durchatmen. Wir sitzen da und schweigen. Den Körper, denke ich, die Hülle, in der du wahrgenommen wirst, den wollten wir ernst nehmen damals, ihn schützen, und was mit ihm passiert, das wollten wir selbst bestimmen. Unvereinbar mit dem Schönheitsdiktat.

Der Markt boomt, der gesunden Frauen anbietet, ihren Körper entsprechend zu richten. Ein Messerschnitt an den Brüsten, am Bauch, an der Nase, ein bisschen Absaugen am Po, am Bauch. Ein bisschen Botox zur ewigen Jugendlichkeit. Am Ende hat es also auch mit diesem Frauenbild zu tun, dass Anna bereitwillig an sich schnibbeln lässt, sie sagt es selbst. Aber für wen? Und warum?

Ich denke an meinen letzten Flug. In der Schlange zum Flugzeug stehen zwei Dicke vor mir. Hoffentlich sitzen die nicht neben mir, denke ich. Anna kennt die andere Seite, sie hat keine Angst vor ihren Sitznachbarn, sondern vorm Anschnallen. „Das letzte Mal kriegte ich den Gurt kaum zu und ruckelte schweißgebadet an dem Ding. Bloß nicht die Stewardess um diesen Verlängerungsgurt bitten müssen, vorher sterb ich lieber!“ Sie habe sich so geschämt. „Du musst da ja laut reden und alle hören zu.“ Sie habe den Gurt dann doch zubekommen, aber sie sei völlig fertig gewesen.

Partner als Stütze

„Wenn du so weit bist, dass du dich für deinen Körper schämst, hast du verloren“, sagt Anna. „Sich für sich selbst zu schämen, heißt, du willst dich nicht mehr zeigen, nicht mehr unter Menschen sein. Deine Lebensfreude verpufft. Früher war ich viel unterwegs, ging gern tanzen oder schwimmen oder in die Sauna. Das mach ich nicht mehr. Mit 125 Kilo schwitzt du extrem. Fünf Minuten tanzen, und ich bin klitschnass.“

Zum Glück ist da noch Victor, Annas Partner und ihre große Stütze aus der Zeit ihrer sozialen Einigelung. Heute wohnen sie zwar nicht mehr zusammen, aber immer noch in unmittelbarer Nachbarschaft. Victor ist groß und schlank und seit über 15 Jahren mit Anna zusammen.

Als sie sich kennenlernten, hatte Anna noch einen BMI innerhalb des Normalbereichs. Dass sie dann im Laufe der Jahre ständig zunahm, stört Victor nicht, er mag sie so, wie sie ist. Das tut Anna gut, aber auch vor ihm schämt sie sich. Wenn sie nackt ist, wenn sie Sex haben. „Dann denke ich bei jeder Bewegung von mir: Hach, wie sieht das aus, wenn der kugelige Bauch da jetzt so zur Seite hängt.“

Neben falscher Ernährung und zuviel Essen spielen für die Entstehung von Adipositas auch genetische Faktoren eine Rolle, ebenso wie Stoffwechsel- und Hormonstörungen oder Schilddrüsenprobleme. Oft sind es auch psychische Probleme, die zur Fettleibigkeit beitragen. Essen als Beruhigungsmittel, wie bei Anna. Zwei Therapien hat sie bereits hinter sich, auf ihrer Suche nach Erklärungen. Sie findet sie vor allem in ihrer Kindheit.

Gefühl von Beschädigtsein

„Es war nicht einfach für mich, die Familie war alles andere als intakt und es gab viel Gewalt, auch sexualisierte Gewalt.“ Mehr möchte sie darüber nicht sagen, wehrt meine Fragen ab, redet weiter über ihre Mutter, von der sie sich im Stich gelassen fühlte. „Sie war schwierig, äußerst schwierig. Sie war auch sehr dick. Rein optisch fand ich sie ekelhaft. Und heute sieht mein Körper exakt wie der meiner Mutter aus. Schrecklich.“

Sie vermag nicht zu sagen, ob es einen Auslöser gab oder ob sie einfach nach und nach immer mehr aß. „Ich spüre eine immerwährende innere Unruhe“, sagt Anna und analysiert sich dann selbst, spricht von typischen Symptomen bei Menschen mit traumatischen Gewalterfahrungen. „Mich treiben Gefühle von Beschädigtsein um und vor allem ein körperlich eingeschriebenes Gefühl von permanentem fundamentalem Mangel. Mir fehlen Barrieren gegen Stress, fehlen Schutzfunktionen gegen alles, was anstrengt oder verunsichert.“

Als Anna das sagt, fallen mir viele Situationen ein, in denen ich sie bremsen wollte, wenn sie zum Beispiel neben dem Stress der Diplomarbeit noch unbedingt die feministischen Protestaktionen gegen den Papstbesuch in Berlin mit vorbereiten wollte. Mein „übernimm dich nicht, mach erst mal eine Sache fertig“, erreichte sie in solchen Momenten nicht. Wenn ihr dann wirklich alles zu viel wurde, entzog sie sich mit Hilfe von Migräneattacken, Müdigkeit, Erkältungen oder anderen Krankheitssymptomen.

„Diese Verletzbarkeit und Schutzlosigkeit sitzt so massiv in mir drin“, sagt sie, „damit mühe ich mich ab und weiß nicht, wie ich es in den Griff bekommen kann. Wenn bei dir was schiefläuft, bist du frustriert und fluchst. Aber das zieht dich nicht in ein Loch, du analysierst die Lage und fängst von vorne an. Mir zieht so eine Situation komplett den Boden weg, ich kann das nicht von mir abtrennen, sehe mich als absolute Verliererin. Da nützt es mir auch nichts, wenn mein Freundeskreis sagt: Du hast das gut gemacht. Ich kann mich nicht selbst beruhigen oder mich trösten oder mir das Gefühl geben, dass mir nichts Schlimmes passieren kann. Ein tief sitzendes Gefühl von Unwertsein blockiert das. Wenn mich all das plagt, hilft mir nur essen.“

Rational kann Anna viele ihrer Verhaltensmuster erklären. „Aber“, sagt sie, „was willst du machen, wenn alles Wissen nichts mehr hilft?“

"Ich schaffe es nicht"

Anna erzählt von ihrer letzten Diät, von Freunden empfohlen, die damit etliche Kilos abspecken konnten. „dabei wiegst du jede Mahlzeit exakt ab, hast dreimal 125 Gramm und noch ein paar kleine Häppchen dazwischen. Aber das funktionierte bei mir nicht. Ich wusste: Ich schaff es nicht.“ Sie erinnert sich an die Wut auf sich selbst, „weil ich es ja war, die es nicht schaffte. Dieser nagende Selbstzweifel ist wie ein tief sitzender Stachel in der Seele. Ich hab mich selbst angekotzt, war depressiv, dachte nur noch, irgendwann bist du bei 150 Kilogramm.“

Anna war nun klar, dass etwas passieren musste. Sie brauchte eine Notbremse, etwas, das ihr half, den Teufelskreis aus Frustration und Essen zu durchbrechen. Sie informierte sich über Magen-Operationen, und was sie erfuhr, fand sie überzeugend. „Diese Operation ist für mich so was wie: last exit, das letzte Mittel.“

Eine Fachärztin für Übergewicht stellte fest, dass Anna die Voraussetzungen erfüllt: Ihr BMI liegt weit über der Untergrenze für die OP, durch die Diabetes leidet sie bereits an einer Begleiterkrankung, sie hält das Übergewicht schon mehr als drei Jahre und liegt altersmäßig innerhalb der vorgeschriebenen Altersspanne von 18 bis 65 Jahren. Außerdem hat sie die konservativen Methoden wie Ernährungsberatung, Bewegungstraining und Verhaltenstherapie alle schon durchlaufen und ist weder alkohol-, tabletten- noch drogenabhängig.

Aufstieg in den ersten Stock

Ein paar Wochen nach unserem Treffen begleite ich Anna zu einer Selbsthilfegruppe Adipositaskranker in einem Krankenhaus. Knapp 30 Menschen sitzen beisammen, manche haben die Magenoperation schon hinter sich, manche vor sich. Anna sitzt mittendrin, sie gehört dazu. Ich dagegen komme mir hier sehr klein vor. Wir sitzen nebeneinander, zwischen unseren Stühlen ist ein Abstand, und ich erinnere mich an die Zeit, als ich sie beim Umarmen umfassen konnte, sich meine Hände hinter ihrem Rücken berührten, als ich noch mit meinem Stuhl an den ihren heranrutschen konnte.

Zuerst wollte Anna nicht zu dieser Gruppe, wollte nicht vor fremden Menschen über ihre Probleme reden. Doch die Atmosphäre ist locker, viele kennen sich, machen Witze über sich, sagen zum Beispiel, dass sie sich erstmal erholen müssen von dem schweren Aufstieg in den ersten Stock. Eine Frau begrüßt die Anwesenden und bittet sie, sich kurz vorzustellen.

Zahlen schwirren durch den Raum. 28 Kilo abgenommen in vier Wochen, 65 Kilo in acht Monaten, 40 Kilo in drei Monaten. Wie schön es sei, wieder Anziehsachen von der Stange kaufen zu können, erzählt eine Frau um die dreißig, die eine Magenoperation schon hinter sich hat, modische Kleidung in Übergröße sei unbezahlbar. „Du wirst alleine schon durch das zum Aschenbrödel, was der Modemarkt für Dicke bietet.“

Eine Frau bemerkt, dass die Stühle in der Selbsthilfegruppe endlich ohne Armlehnen sind, und sie alle so bequem sitzen können. Anna fragt, wie die Operierten mit ihrem Aussehen klarkämen und hakt nach dem fast einstimmigen „prima“ nach: „Und die vielen labberigen Hautfalten?“ Die Antworten überzeugen sie, vor allem der Satz der jüngsten Frau in der Runde: „Die kann man besser verstecken.“

Adipositas-Chirurgie gehört noch nicht zu den Standard-OP an deutschen Kliniken. Durch die Magenverkleinerung wird organisch die Nahrungsmittelaufnahme begrenzt, schon nach geringen Mengen ist man satt. In begründeten Fällen werden diese chirurgischen Eingriffe von der Krankenkasse übernommen. Eine der gängigen OP ist die zeitlich begrenzte Verkleinerung des Magens durch ein Magenband. In einer anderen Operation wird der Magen endgültig verkleinert und ein Bypass eingefügt, der auf den Verdauungsvorgang einwirkt und die Fettverwertung reduziert.

Vorurteile auch im Gesundheitssystem

Studien kommen heute zu dem Ergebnis, dass etwa ein Drittel der Menschen in den Wohlstandsgesellschaften übergewichtig ist. In den USA soll es 2030 jeder Zweite sein, für Deutschland liegt die Prognose bei 45 Prozent. Falsche Ernährung und fehlende Bewegung gelten als Hauptursachen für diesen rapiden Anstieg.

In der Charité gehört Professor Jürgen Ordemann zu den leitenden Ärzten des Adipositaszentrums. Während einer Sprechstundenpause berichtet er von seinen Erfahrungen mit operativen Eingriffen bei Adipositaserkrankten. „Wenn wir uns die OP-Zahlen im europäischen Vergleich oder weltweit anschauen, steht Deutschland an letzter Stelle. In den USA wird die Operation 30 bis 40 Mal so oft gemacht.“

Ordemann sieht die Ursache dafür zum einen in der Schwerfälligkeit der Krankenkassen, was die Kostenübernahmen betrifft, zum anderen in den fehlenden Ausstattungen der Krankenhäuser, um Schwergewichtige operieren oder auch einfach nur in Notfällen behandeln zu können. „Das beginnt bei Kleinigkeiten wie der Blutdruckmanschette, die natürlich um einen adipösen Arm passen muss, bis zum OP-Tisch, der die entsprechenden Gewichte halten muss“, sagt er. „Die therapierenden Ärzte müssen auf dieses Krankheitsbild spezialisiert sein. Auch das Pflegepersonal muss entsprechend fortgebildet werden. Selbst im Gesundheitssystem gibt es unglaubliche Vorurteile adipösen Patienten gegenüber – sei es auf der Krankenstation, sei es im OP-Saal.“

Auch Anna erlebt zunächst eine Enttäuschung, als sie Kontakt mit ihrer Krankenkasse aufnimmt. Nachdem sie mit ihrer Ärztin alle notwendigen Schritte zur OP eingeleitet hat, beantragt sie die Kostenübernahme für die Operation bei ihrer Kasse. Diese jedoch lehnt eine Übernahme ab. Auch ein chirurgischer Eingriff erfordere im Anschluss an die Operation eine lebenslange Selbstdisziplin, heißt es in der Begründung. „Mit dieser Selbstdisziplin und einer dauerhaften Reduzierung der Kalorienzufuhr sowie einer Bewegungstherapie (…) lässt sich das Körpergewicht reduzieren und damit der chirurgische Eingriff vermeiden.“

Die Kilos purzeln, die Laune steigt

Anna legt Einspruch ein und schlägt in ihrem Schreiben vor, „den GEK-Mitarbeitern Fortbildungen zu gewähren, die den wissenschaftlichen evidenzbasierten Stand der Adipositaschirurgie zum Inhalt haben“. So würden sie in die Lage versetzt, auf Methoden wie „Angstmache“, „Abschreckung“ und „subtile Diffamierung übergewichtiger VersicherungsnehmerInnen“ zu verzichten.“

Wenige Wochen nach dem Widerspruch erhält Anna Mertens die Kostenzusage und wird operiert. Von ihrem voluminösen Magen bleibt eine kleine Magentasche übrig, ein kurzer und doch so folgenträchtiger Eingriff. Die Operation verläuft problemlos. Ich rufe sie am Tag danach an. Sie ist guter Laune, erzählt mir, wie Victor sie ins Krankenhaus brachte und sie beruhigte. Und wie sie dann allein sein wollte mit sich und ihrem Entschluss.

Fast ein Jahr ist seitdem vergangen. In gleichem Maße, in dem die Kilos von ihr abpurzeln, öffnet Anna sich wieder dem Leben und ihren Freunden. Sie weiß, dass neue Probleme auf sie zukommen werden, auf dem Weg zu den angestrebten 80 Kilogramm. Schlaffe Hautstreifen werden an ihrem Körper hängen, vieles, was sie mochte, wird sie nicht mehr essen können. Und vor allem: Wie wird sie sich künftig beruhigen, wenn sie gestresst oder unsicher ist? Es sind neue Fragen, denen sie sich stellen muss und für die sie psychische Stützräder brauchen wird in ihrem Leben mit verkleinertem Magen, denn „du wirst ja nicht am Kopf operiert“.

Bei meinem letzten Geburtstag vor ein paar Wochen war Anna, die inzwischen 91 Kilo wiegt, die Letzte, die nach Hause ging. So entspannt habe ich sie lange nicht mehr gesehen.

© Berliner Zeitung